Regen über der StadtLeseprobeImpressum & Datenschutz
Regen über der Stadt - Ein Fantasy-Roman von Marc Schomerus

Prolog

Exodus

Der Regen lag über der Stadt wie ein Leichentuch, schiefergrau und so schwer auf den Häusern, dass die Dachziegel in der Oberstadt knackten und die Rieddächer im Fischerviertel sich immer tiefer duckten. Lotrecht schlugen die Tropfen aus der windstillen Nacht hier auf dem Boden der Schlucht ein und fielen dermaßen dicht, dass Nadaya ihren Albtraum fast schon erfüllt sah. Aber sie wusste, dass er gerade erst begonnen hatte. Reglos kauerte sie auf der steinernen Säule, die über der Brücke thronte, und wartete.

Wer die junge Jägerin nicht kannte, hätte sie für tot gehalten. Eine Statue, aus dem Stein gehauen, um die Haupthandelsstraße der Stadt zu bewachen. Aus der Kapuze, die der Wolkenbruch ihr tief ins Gesicht drückte, flossen einige schattengetränkte Haarsträhnen zusammen mit ihrem langen Mantel unentwegt dem brodelnden Kopfsteinpflaster zu, von den rasenden Tropfen mal hierhin, mal dorthin gedrängt. Doch Nadaya blieb unbewegt.

Niemand konnte so regungslos verharren wie sie. Wenn sie mit ihrem Vater auf die Jagd ging, war es ihr ein Leichtes, so vollkommen mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, so unauffällig zu werden, so wenig da zu sein, dass es kaum ein Tier schaffte, sie rechtzeitig zu bemerken. Doch in dieser Nacht wartete sie nicht auf Beute. In dieser Nacht ging es nicht darum, eine Mahlzeit zu erlegen. In dieser Nacht galt es, ihre Stadt zu retten.

Neben Nadaya prasselte der Regen auf Rah’khroms zottigen schwarzen Schädel nieder. Der Gormorla verstand es nicht halb so gut wie die Jägerin, unbewegt auf etwas zu warten. Seine Ohren zuckten hin und her, auf der Suche nach verräterischen Botschaften, die durch das monotone Rauschen schon zu ihnen durchdringen mochten, während die Dunkelheit den Augen noch vorenthielt, was in den Gassen der Stadt gerade geschah. Mit der Zunge leckte er sich immer wieder das Wasser aus seinem minotaurenhaften Gesicht.

Nadaya richtete sich auf. Rah’khrom konnte nicht glauben, dass sie schon vor ihm etwas wahrgenommen hatte. Aber dieses Menschenkind verblüffte ihn immer wieder. Jetzt konnte auch er es hören, das dumpfe Aufschlagen von Hufen auf Pflastersteinen, das Ächzen von Achsen unter schweren Lasten.

Der Exodus hatte tatsächlich begonnen.

Obwohl die Morgendämmerung kaum eine aschfarbene Ahnung über den Rändern der Schlucht war, begann es sich in den Straßen der Stadt zu regen: einzelne Wanderer mit nicht mehr als einem kleinen Bündel auf dem Rücken; Ochsengespanne mit ganzen Familien und halben Häusern auf dem Fuhrwerk; Reiter in schützenden Wettermänteln; Kinder, die barfuß durch die tiefen Pfützen tapsten, Schlafwandlern gleich. Sie alle tauchten schattenhaft aus dem Schleier des Regens und der Nacht auf und strömten zur Brücke, als wäre der Fluss im Süden bereits über die Ufer getreten und schwemmte nun alles Treibgut aus der Stadt in einer gewaltigen Woge auf Nadaya zu.

„So viele.“

Nadaya wunderte sich, wie angsterfüllt ihre Worte klangen. Aber sie konnte tatsächlich nicht die geringste Freude empfinden. Die nervenzerrende Ungewissheit der letzten Stunden war zwar mit der plötzlich einsetzenden Menschenflut von ihr gewichen, doch statt Erleichterung fühlte sie nun eine noch viel schwerere Last auf sich niedersinken. Sie spürte jeden einzelnen Blick, der auf ihr ruhte. Und sie wusste, dass sie diesen Blicken nicht mehr entkommen konnte. Dieses Mal konnte sie nicht einfach in ihrer Umgebung untertauchen. Sie konnte nicht mehr einfach aufhören, da zu sein. Denn sie war jetzt für all diese Menschen verantwortlich. Für Hunderte!

„Es sind viel zu wenige. Es ist nur ein Bruchteil der Stadtbewohner. Aber gut. Wir haben getan, was wir konnten. Wir müssen jetzt aufbrechen.“

Rah’khroms Worte drückten Nadayas Schultern noch tiefer hinab. Er hatte vollkommen recht. In ihren Augen schienen es sehr viele zu sein, die ihrem Ruf gefolgt waren. Aber die Zahl derer in ihrer Stadt, die sich ihren Warnungen gegenüber taub gestellt hatten, war um ein Vielfaches größer. Sie selbst musste sogar ihre gesamte Familie zurücklassen. Keiner von ihnen hatte ihr Glauben geschenkt. Nicht einmal ihr Vater. Und jetzt konnte sie nichts mehr für sie tun. Jetzt war es ihre Aufgabe, wenigstens diejenigen aus der Stadt zu führen, die ihre düsteren Vorahnungen ernst genommen hatten. Aber wie? Wie konnte sie selbst dieser kleinen unzählbaren Menge vorangehen?

„Rahk, ich kann das nicht.“

Der alte Gormorla sah kurz zu ihr hinauf und schob ihre Bedenken mit einer abfälligen Bewegung seiner Pranke zur Seite.

„Dummes Geschwätz!“

„Aber was soll ich denn machen? Sieh doch, wie ängstlich sie alle sind! Sie glauben nicht, dass wir sie retten können. Und was ist, wenn wir uns tatsächlich irren?“

„Schau nicht die an, die dir den Mut rauben, sondern diejenigen, die dir Kraft geben!“

Nadaya verstand erst nicht, was der Veteran damit meinte. Dann blieb ihr Blick auf dem Gesicht einer alten Frau haften. Sie kannte sie nicht, aber diese Frau schaute sie an wie kein anderer in der sich vor der Brücke drängenden Menge. Alle blickten skeptisch und furchtsam zu Nadaya herauf. Nur diese Greisin lächelte sie an und nickte ihr zu.

Aber sie war ja gar nicht die Einzige! Ganz hinten entdeckte Nadaya auf einmal ein kleines Mädchen, das ebenfalls lächelte. Mit der einen Hand hielt es eine zerschlissene Puppe, mit der anderen drückte es die schwielige Hand seines Vaters. Auch dieser nickte Nadaya freundlich zu, als sie ihn anschaute. Sie war ihm vorher noch nie begegnet, aber sie merkte unwillkürlich, dass er ihr vertraute.

Und da erwachte die Jägerin vollends zum Leben. Mit einem einzigen Satz sprang sie von der Säule herab und marschierte über die Straße zu ihren Pferden. Rah’khrom folgte ihr. Trotz seiner schwer gepanzerten Rüstung schwang er sich mit Leichtigkeit auf sein Schlachtross. Nadaya konnte gut verstehen, dass viele, die noch nie einen Gormorla kennengelernt hatten, vor diesem gehörnten Riesen aus den Höhlen des Südens zurückschreckten, aber sie war froh, ihn an ihrer Seite zu haben.

Rah’khrom hob das Signalhorn an seine Lippen und blies mit aller Kraft hinein. Das Donnern des Horns rollte durch den Regen über die Stadt hinweg. Dies war die letzte Warnung, der allerletzte Ruf, die Stadt zu verlassen.

Plötzlich bemerkte Nadaya aus den Augenwinkeln eine Bewegung am Ufer unterhalb des Brückenbogens. Aber als sie ihren Kopf dorthin drehte, sah sie nur noch fliehende Wellenkreise im schwarzen Wasser, die sich zwischen den harten Einschlägen der Regentropfen rasch verloren.

Noch einmal blickte sie zurück in das ermutigende Antlitz der alten Frau. Dann überquerte Nadaya mit aufrechtem Haupt die mächtige Brücke.

Einer nach dem anderen setzten sich die Menschen hinter ihr in Bewegung und folgten ihr stumm aus der schlafenden Stadt nach Norden.


1. Kapitel

Der Traum

Am Südtor der Stadt lugte Correon hoffnungsvoll unter dem Torbogen hervor. Doch die Dämmerung, die zaghaft über die Schlucht hereinbrach, ließ allenfalls die Masse der schweren Regenwolken noch finsterer erscheinen; einen Lichtstreif über dem Klippenrand suchte der junge Soldat vergebens. Enttäuscht zog er sich unter das Dach zurück und wischte sich den Regen aus dem Gesicht.

Sein Mentor Rohar hatte die windstillen Morgenstunden ihrer Schicht genutzt, um auf dem kleinen Teetisch vor dem Wachzimmer ein kunstvolles Kartenhaus zu errichten. Wie alt der ergraute Soldat wirklich war, hatte Correon nie zu fragen gewagt, aber es erstaunte ihn jedes Mal, mit welchem Feingefühl dieser seine vom Hellebardenschaft schwieligen Finger mit ihren angeschwollenen Knöcheln noch zu führen vermochte.

Correon trat an den Tisch zurück und setzte sich auf seinen abgewetzten Hocker. Seine Beine streckte er auf eine alte Apfelkiste und beobachtete, wie Rohar sein Werk vorsichtig vollendete. „Kartenhaus“ war eine Beleidigung für diesen prunkvollen Turm, auch wenn die Spielkarten aus Aaryon nach einem Jahr Tordienst schon völlig abgenutzt und ihre kunstvollen Verzierungen kaum noch zu erkennen waren.

Das Blatt war das Verlobungsgeschenk seiner Frau gewesen. An dem Tag, als sie ihn erwählt hatte, war auch seine Ausbildung abgeschlossen gewesen und er hatte seine erste Nachtwache am Südtor angetreten; damals schon unter den fürsorglichen Augen Rohars.

Gerade wollte der Alte die letzen beiden Karten absetzen, als ein Ruck durch den Tisch ging, der die Arbeit der letzten zwei Stunden in einem einzigen Augenblick vernichtete. Zornig blitzte Rohar seinen jungen Kollegen an und wollte gerade loswettern, als sich der Tisch abermals bewegte und fast einen halben Schritt stadteinwärts rutschte. Weit genug, um Rohars Blick auf den Boden zu lenken: Das steinerne Pflaster der Straßen und Gassen, über dem er sein halbes Leben lang gewacht hatte, war lebendig geworden.

Auch Correon bemerkte jetzt, was gerade geschah, und sprang mit rasendem Herzen auf. Seine Stiefel versanken bis über die Knöchel im Wasser.

So stark konnte es nicht regnen. Sein Blick raste den Torbogen hinaus zum Fluss hinüber. Doch er fand ihn nicht mehr. Der Fluss, der sich sanft um die Stadt herum geschlängelt hatte, um ihre Mühlen anzutreiben und ihre Felder und Gärten zu bewässern, er existierte nicht mehr. An seiner Stelle füllte jetzt ein See die Ebene vor der Stadt, ein im Sturzregen brodelndes Meer, das begonnen hatte, mit der Morgendämmerung in die Stadt zu kriechen.

Hatte er vorhin so stur nur in den Himmel gestarrt, dass es ihm nicht aufgefallen war? Oder war das Wasser innerhalb von wenigen Minuten so stark angeschwollen? Es kletterte bereits über den Schaft seines linken Stiefels und zog Tisch und Stühle mit sich in die Stadt hinein.

„Schlag den Alarmgong! Schlag den Alarm, Junge!“

Rohars Befehl riss Correon aus seinen Gedanken und jagte ihn durch die Tür der Wachstube die Treppe zum Südturm hinauf. Das Wasser spritzte nur so aus seinen Stiefeln, während er zwei, drei Stufen auf einmal nahm.

Atemlos stieß er die Luke zur obersten Plattform auf und griff nach dem Schlegel. Gerade wollte er ausholen, als sein Blick von einem weißen Funkeln in der Ferne gefesselt wurde. Ein kräftiger Wind erhob sich und peitschte ihm den Regen aus dem Süden direkt ins Gesicht. Doch er konnte sich nicht abwenden. Über die gesamte Breite der Schlucht wälzte sich eine weiß kochende Welle heran, höher als selbst die höchsten Türme der Oberstadt.

Correons Hand fuhr nieder und sandte einen einzigen einsamen Gongschlag über die Stadt, dann brach die Flut über ihn herein.

Das Wasser wälzte sich über die Südseite der Stadtmauer, ohne sich auch nur im Geringsten von dem meterdicken Schutzwall beeindrucken zu lassen. Bäume und Felsen, die in den Fluten mitgerissen wurden, zerschlugen die Befestigungsanlagen schneller als die schwersten Belagerungsmaschinen. Und dann waren es die Fragmente der Mauer selbst, die durch die Wände der Häuser brachen, die sie eigentlich schützen sollten. So schnell verschlang die Flut Haus um Haus, Gasse um Gasse, dass kaum ein Klagelaut dem Tag entgegenfloh.

In der Oberstadt war die Zerstörungsgewalt der Welle nicht ganz so stark, doch das Wasser überstieg noch die höchste Turmspitze der Stadt um mehrere Mannslängen, sodass alles Leben auch dort erlosch.

Hinter dem Hügel stürzten die Fluten schließlich auf das nördliche Viertel nieder, auf Nadayas Haus zu, und durch das offene Fenster brandete die Morgensonne in ihr Zimmer, spülte über das nackte Bein, das sie in der feuchtwarmen Frühsommernacht unter der Decke hervorgestreckt hatte, staute sich kurz in ihrem Bauchnabel und strömte weiter über ihr Hemd den Hals empor. Bald war die junge Frau bis zu den Haaren in Sonnenstrahlen getaucht und selbst durch ihre geschlossenen Augen so geblendet, dass ihr Kopf unwillkürlich zur Seite zuckte. Eine Träne rann ihre Wange hinab, als sie die Augen öffnete.

Wieder hatte sie diesen Traum gehabt. Wieder war es die Sonne, die sie weckte, schon hoch genug am Himmel, um sich in ihr Zimmer zu schleichen. Die Sonne, die hoch über Nadayas Stadt den Rand der Schlucht hinabstürzte und das Tal mit Licht und Wärme tränkte, einen Tag lang zwischen den Felswänden gefangen wie der Fluss, wie die Felder und Wälder an seinen Ufern. Gefangen wie Nadaya.

So gerne würde sie einmal die Wände der Schlucht erklimmen, um zu sehen, was das Sonnenlicht sah, jeden Morgen, bevor es über die Westwand in die Schlucht hinabfiel, jeden Abend, nachdem es über die Ostwand wieder hinausgeklettert war. Aber noch niemand hatte die senkrecht abfallenden, an vielen Stellen sogar überhängenden Wände der Schlucht bezwungen.

Wahrscheinlich hatte außer Nadaya auch noch niemand so eine verrückte Idee gehabt. Außer ihr kam sich sicher keiner gefangen vor in der Schlucht. Schließlich brauchte man an dieser Stelle eine halbe Tagesreise, um von der einen Wand zur gegenüberliegenden Seite zu gelangen. Und man musste sogar mit schnellen Pferden mehrere Wochen flussabwärts reiten, bis man nach Aaryon, der stolzen Stadt im Norden, gelangte.

Weiter war noch nie jemand gereist, den Nadaya kannte. Seit vielen Generationen nicht. Warum auch? Die Wälder hier boten reiche Jagdgründe, die Felder den Fluss entlang waren fruchtbar, und wenn man sich nicht ganz dumm anstellte, konnte man einen guten Baugrund in der Oberstadt erwerben, weit genug entfernt von den Gerbern und Fischern und den Gerüchen, die aus ihrem Viertel durch die Gassen der Unterstadt schlichen. Die Stadt bot alles, was das Herz begehrte. Und dennoch fühlte sich Nadaya wie eine Gefangene.

Lag es an dem Traum? Oder daran, dass nur noch wenige Monde bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag sterben würden, dem Tag, an dem sie sich für einen Mann entscheiden und das Haus ihres Vaters verlassen musste? Hatte sie sich früher schon so gefangen gefühlt? Oder war sie erst durch ihren Traum auf den Gedanken gekommen, dass sie in einer Todesfalle lebte. Dass die ganze Stadt in einer Todesfalle lag, die so gewaltig war, dass bisher noch niemand sie erkannt hatte. Außer ihr.

„Nadaya!“

Das Klopfen ihres Vaters an der Tür riss sie aus ihren Gedanken.

„Bist du bereit? Oder soll ich ohne dich reiten?“

Nadaya sprang aus dem Bett. „Nein! Nein, ich bin gleich fertig! Du kannst schon aufsatteln“, rief sie ihrem Vater durch die Türe zu und spritzte sich aus einer Trinkschale etwas Wasser ins Gesicht, um Schlaf und Traum aus ihren Augen zu spülen.

„Geht das nicht ein bisschen leiser?“ In der anderen Ecke des Zimmers, die noch im Dunkeln lag, drehte sich ihr Zwillingsbruder Nahran zur Wand um. „Schlaf ist kostbar.“ Ein Kissen schlug direkt vor seinem Kopf ein.

„Du musst es ja wissen!“ Nadaya zwängte auch ihr zweites Bein in die Hose und schlüpfte in ein ledernes Hemd. Beide bestanden aus weichem, fast schwarzem Material, besetzt mit unzähligen kleinen Lederfetzen in Grün- und Erdtönen. Während sie noch die Schnürung über ihrer Brust festzurrte, schob sie bereits ihren ersten Fuß in den Schaft eines Stiefels, der am Boden lag.

* * *

„Na endlich. Das ist jetzt schon das dritte Mal diese Woche, dass wir so spät aufbrechen. Geht es dir nicht gut, Kind? Du weißt, dass ich auch alleine auf die Jagd gehen kann. Ich würde wohl doppelt so lange brauchen, um etwas zu erwischen, aber ich bin sicher, dass wir nicht verhungern müssten.“

„Es geht mir gut, Papa. Ich hab nur schlecht geträumt. Und Mama will sicher nicht so lange mit dem Essen warten, bis du alleine was gefangen hast.“

Auf Zehenspitzen drückte Nadaya ihrem Vater einen dicken Kuss in den Bart und nahm ihm die Zügel ihres Pferdes aus der Hand. Zur Begrüßung streichelte sie ihrer Stute Vyala sanft über die strahlend weiße Stirn. Dann zog sie sich geschmeidig in den Sattel.

„Was ist? Wollen wir jetzt los, alter Mann?“

Lachend sah Bannhart zu seiner Tochter auf, schüttelte den Kopf und schwang sich selbst auf sein Reittier, während Nadaya schon auf die Gasse hinausstürmte und im Galopp auf das Waldtor zuhielt. Er war sehr stolz auf sie, das älteste von drei Kindern.

Auch wenn sie nur wenige Minuten vor ihrem Zwillingsbruder auf die Welt gekommen war, schien sie ihm schon immer ein ganz besonderes Geschenk gewesen zu sein. Und die viele Zeit, die sie auf der gemeinsamen Jagd verbrachten, hatte ihre Beziehung über die Jahre hinweg vertieft und gefestigt. Obwohl sie dabei natürlich kaum miteinander sprachen. Oder vielleicht gerade weil sie dabei gelernt hatten, sich auch ohne Worte immer besser zu verstehen und sich blind aufeinander zu verlassen.

Schließlich waren die Wälder nicht ungefährlich. Vor allem in der Nähe der Felswand, bei den Wasserfällen, an denen sich die schmackhaften Klipprehe so gerne aufhielten, tauchten auch immer wieder einige Höhlenbewohner auf, die selbst gerne auf die Jagd gingen und denen es egal war, ob sie ein Reh oder einen Menschen zwischen die Zähne bekamen – ein fliehendes Reh einzuholen war nur etwas anstrengender.

Die Wachen am Waldtor winkten Nadaya und Bannhart im Vorbeireiten mit ihren morgendlichen Teekrügen zu. In vollem Galopp rasten die beiden Jäger aus der Stadtmauer hinaus auf den westlichen Wald zu.

Auf offenem Feld hatte Bannhart seine Tochter schnell eingeholt. Sein schwarzer Hengst Ravynn war ein gut trainierter Läufer im Zenit seiner Kraft – das großzügige Geschenk eines Züchters aus der Oberstadt für das erstklassige Wildbret, das Bannhart ihm immer lieferte. Wahrscheinlich wollte er so die Pünktlichkeit seiner Lieferungen sicherstellen.

Nadayas Tier war noch sehr jung. Sie hatte Vyala im letzten Herbst für den Erlös ihrer ersten eigenen Aufträge erworben. Die schneeweiße Stute hatte Temperament und konnte schon sehr kraftvoll losstürmen, aber ihr ging schnell die Energie aus. Und Nadaya fehlte noch die Erfahrung – oder die Geduld –, diese Schwäche durch ihre Führung auszugleichen. Im Winter war sehr viel Schnee gefallen. So hatte sie erst spät im Frühjahr größere Ausritte unternehmen können. Und nach der langen Ruhezeit war es natürlich noch schwerer, das Tier im rechten Maß zu zügeln, um seine Ausdauer zu fördern.

Als Nadaya zu weit zurückfiel, ließ Bannhart Ravynn etwas kürzer ausgreifen. Schließlich war der Weg zu Norholds Farm, wo sie ihre Pferde während der Jagd in der sicheren Koppel lassen konnten, die beste Gelegenheit, sich noch etwas zu unterhalten. Eine Schafherde bremste ihn schließlich so weit ab, dass Nadaya ihn in einem lockeren Trab einholte. Der scharfe Ritt in der Morgensonne hatte auch den letzten Schlaf aus ihren Augen gewischt, und ihr schwarzes Haar floss frei im Wind über ihre Schultern.

„Also, was ist das für ein Traum, der dich so plagt, dass du unsere Jagd vergisst?“

Schlagartig kehrten die nächtlichen Schatten auf Nadayas Gesicht zurück. Der sanfte Wind schwoll in ihren Ohren zu einem betäubenden Donnern an, und Felder und Hügel, Schafe und Reiter, die gesamte Schlucht versank in einer finsteren Tiefe. Tausende Tote trieben schwerelos an ihr vorüber, wie zersplittertes Treibholz, zerschmetterte Fragmente der Stadt, und blickten sie aus leeren Augen an.

Nadaya wandte sich erschrocken ab und strich sich verlegen einige Haarsträhnen aus dem Gesicht.

„Ich will dich nicht bedrängen. Aber wenn es schon dreimal derselbe schlimme Traum war, solltest du ihn vielleicht mit jemandem teilen. Hast du mit Mama darüber gesprochen? Oder mit Nahran?“

Nadaya und ihr Zwillingsbruder waren sich nicht sehr ähnlich. Aber früher hatten sie selbst das kleinste Geheimnis miteinander geteilt, und wenn einer mit Fieber im Bett gelegen hatte, hatte auch der andere aus Solidarität das Zimmer nicht verlassen. Diese Bindung hatte sich in den letzten Jahren fast vollständig aufgelöst. Nahran war viel unterwegs. Aber da sie immer noch ihr Zimmer teilten, mochten ihm die Albträume seiner Schwester vielleicht aufgefallen sein.

„Nein. Ich glaube auch nicht, dass er etwas Besonderes bedeutet. Er ist einfach zu absurd. Wahrscheinlich ist es nur eine Erinnerung an meinen Schwimmunterricht.“

„An deinen Schwimmunterricht? Du meinst, wie ich versucht habe, dir das Schwimmen beizubringen, und dann der ...“

„... der Flusspolyp dir das Tauchen beibringen wollte. Ja.“ Nadaya musste lachen.

„Aber der hatte mich doch einfach nur überrascht“, versuchte Bannhart sich zu verteidigen.

„Ja! Mich hat es auch sehr überrascht, als du plötzlich vor mir versunken bist!“

„Aber das war doch noch ein Baby – er hat mir nur die Füße weggezogen.“

„Dir die Füße und mir den einzigen Halt, den ich im Wasser hatte!“ Nadaya warf ihrem Vater einen betont vorwurfsvollen Blick zu.

„Das Wasser war nicht einmal hüfttief“, beschwichtigte Bannhart, „man konnte da noch gut stehen.“

„Tja, ich nicht.“

„Ich hatte ihn auch sofort wieder abgeschüttelt.“

„Ja, und als du wieder aufgetaucht bist, warst du überall mit schwarzer Tinte bedeckt, und ich hab gedacht, du wärst ein Flussmonster.“

„Aber ich hab dich sofort wieder gehalten – du bist nicht einmal untergegangen, so gut hatte ich dir das Schwimmen schon beigebracht!“

„Ja. Das stimmt. Du hast mich gleich wieder gehalten.“ Nadaya schenkte ihrem Vater ein kurzes, sonniges Lächeln, dann verdüsterte sich ihre Miene wieder.

„In meinem Traum aber nicht.“

Bannharts Herz zog sich zusammen. Er wollte schnell etwas erwidern, fand aber keine Worte.

„In meinem Traum hat mich keiner gehalten. Und niemand konnte mehr stehen. Auch du nicht. Die ganze Stadt ist im Wasser versunken. Selbst die höchste Palastspitze in der Oberstadt. Alle sind ertrunken.“

Bannhart lachte erleichtert auf. „Die ganze Stadt ist versunken, sagst du?“

„Ja.“ Nadaya blickte ihren Vater skeptisch an. Nahm er sie nicht ernst?

„Ich glaube, ich kenne den Grund für deine Träume.“

„Ja?“ Nadayas Miene hellte sich etwas auf.

„Weißt du, früher müssen sehr viele diesen Traum gehabt haben. Der Fluss trat häufig über die Ufer. Vor allem im Frühjahr, nach der Schneeschmelze. Man brauchte den Fluss, um die Mühlen anzutreiben, die Gerber brauchten ihn, die Fischer natürlich – Wasser ist lebensnotwendig. Aber es kann auch tödlich sein. Manchmal stieg der Flusspegel mehrere Schritt hoch, schwemmte Teile des Ufers weg oder riss ganze Mühlen ein. Wenn die Strömung zu stark war und sich zu viel Treibholz in der Brücke verfing, drang das Wasser bis in die Stadtmitte vor. Es soll sogar einmal eine Flut gegeben haben, die den gesamten Oberstadthügel umschlossen hat – da war der Fluss so breit wie die halbe Schlucht.“ Bannhart blickte nach Osten über die Weiden und Äcker hinweg zum Fluss, als könnte er es sich selbst kaum vorstellen. „Bei solchen Fluten sind viele Menschen ertrunken.“

Nadaya wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte: „Aber der Flusspegel schwankt doch höchstens mal ein oder zwei Ellen. Die Ufer sind überall ausreichend gesichert. Ich habe noch nie gehört, dass der Fluss in irgendeiner Form die Stadt bedroht hätte.“

„Das ist richtig. Heute ist der Fluss keine Gefahr mehr.“

„Aber warum? Regnet es nicht mehr so viel wie früher?“

„Oh doch. Manche sagen sogar, es würde von Jahr zu Jahr mehr regnen.“

„Und wieso tritt der Fluss dann nicht mehr über die Ufer?“ Nadaya konnte sich einfach keinen Reim darauf machen.

„Weil wir doch den Damm haben.“

„Welchen Damm?“

Ihr Vater warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Wir hätten wohl nicht so einfach über deine Schulschwänzerei hinwegsehen sollen! Etwa zwei Wochen flussaufwärts haben die Ältesten des Stadtrates einst einen mächtigen Damm errichtet. Es heißt, er sei so hoch wie die Schlucht und es habe über zwei Generationen gedauert, bis er fertiggestellt war. Dieser Damm fängt die Wassermassen der Schneeschmelzen ab und sorgt dafür, dass der Fluss nicht mehr ausbrechen kann. Das ist seit Hunderten von Jahren schon so. Du siehst also, es gibt einen guten Grund für deinen Traum, aber du musst ihn nicht mehr fürchten. Die Ältesten haben die Stadt gesichert. Jetzt komm, lass uns noch etwas Zeit aufholen!“

Damit spornte er Ravynn zu einem neuen Galopp an, und Vyala wartete gar nicht erst auf die Zustimmung ihrer Reiterin, die Herausforderung anzunehmen. Im Wind und der wärmenden Sonne schmolz Nadayas Albtraum dahin. Norholds Farm wartete schon hinter dem nächsten Hügel, und Nadaya schaffte es tatsächlich, sie noch eine Pferdelänge vor ihrem Vater zu erreichen.

* * *

Zwischen den blühenden Weiden von Norholds Koppeln war die Luft schnell heiß und stickig geworden. Der schmale Bach, auf dem sie ihr Boot mit zwei Stangen vorwärtsschoben, strahlte hier nur noch wenig von der Kälte aus dem Innern der Westwand ab. Nadaya war froh, als sie endlich den letzten Aussichtsturm passierten und unter das schützende Blätterdach des Waldes glitten. Ravynn und Vyala hatten sie unter den wachsamen Augen der Knechte zurückgelassen, die Norholds üppige Viehbestände vor ungebetenen Gästen aus dem Wald sicherten.

Schutz, Weide und Wasser gegen ein Klippreh oder Einhorn jede Woche. Das war für beide Seiten ein gutes Geschäft, eines, das Nadaya ausgehandelt hatte. Drei Sommer zuvor hatten ihr Vater und sie nach der Jagd von ihren Reittieren nur noch eine blutige Sattelhälfte im Wald wiedergefunden. Natürlich schränkte das Boot ihren Bewegungsspielraum abseits der Bachläufe gegenüber Pferden beträchtlich ein. Aber dafür stand ein Boot nicht auf der Speiseliste der größeren Wald- und Höhlenbewohner – wenn man vielleicht von den Granitgreifern absah. Aber die waren ausschließlich nachts aktiv. Und es war ja auch nicht so, dass sie wirklich auf die Jagd gehen würden nach einem Boot. Zumindest nicht, bevor das Holz gut angefault war.

Bannhart jagte nie zweimal hintereinander an der gleichen Stelle. So wurde ihre Beute nicht allzu misstrauisch. Heute hatte er sich einen Sturzbach weiter südlich vorgenommen, von dem er noch nie mit leeren Händen zurückgekehrt war.

Das Wasser fiel hier über viele kleine Stufen herab, die es Nadaya erlaubten, einen Felsvorsprung fast auf Höhe der Baumkronen zu erreichen. Der Teich, in dem sich das Wasser sammelte, bevor es durch den Wald zum Fluss hinabwanderte, war von einer schmalen Lichtung umgeben. Eine bessere Position als direkt über dieser Tränke konnte sich ein Bogenschütze kaum wünschen.

Der Waldboden war in dieser Gegend außerdem von übermannsgroßen Felsbrocken übersät, die ein natürliches Labyrinth zwischen den Baumstämmen bildeten. Bannhart konnte sich hinter einer trichterförmigen Felsformation mit einem Fangnetz verbergen. Wenn Nadayas Schuss die Rehe in Panik auseinandersprengte, hatte er eine gute Chance, dass ein oder zwei der Tiere in seine Richtung flohen.

Nach einem kurzen Frühstück ließ Nadaya den Rucksack mit dem restlichen Proviant bei ihrem Vater zurück und machte sich mit Bogen und Jagdmesser auf zum Wasserfall. Dabei nahm sie einen großzügigen Umweg, um den direkten Weg zu ihrem Vater nicht durch ihre Fährte zu verunreinigen. Das Rauschen und Prasseln des Wassers führte sie sicher ans Ziel.

Der kleine Teich am Fuß der Kaskaden war ein herrlicher Anblick. Da das Wasser hier nicht frei hinabstürzte, sondern wie auf einer steilen Treppe die Felswand hinabkletterte, war er vollkommen klar. Ein Schwarm lavendelfarbener Felsfärber schwebte über seinem Grund, zuckte hierhin und dorthin, um all das Nahrhafte einzusammeln, das die Wand hinabgespült wurde.

Als der Schatten der Jägerin auf die Wasseroberfläche fiel, zogen sie sich blitzschnell zurück, den Bach hinab in den Schutz der überhängenden Uferböschung. Für einen Moment meinte Nadaya dort im Halbdunkel eine weit größere Wellenbewegung wahrzunehmen, als sie von den Fischen verursacht worden sein konnte. Hatten sie einen Flusspolypen aufgescheucht? Doch Nadaya war nicht zum Angeln gekommen.

Sie blinzelte hinauf zu dem Felsvorsprung im Wasserfall, wo sie sich auf die Lauer legen würde. Bevor sie die schwierige Kletterpartie in Angriff nahm, fing sie sich einen Schluck des eisigen Stroms mit den Händen auf, um ihren Durst zu löschen. Dann prüfte sie noch einmal den Halt von Bogen und Köcher auf ihrem Rücken und zog sich die erste Steinstufe hinauf.

Die Flut, die hoch oben aus der Felswand sprang und jetzt auch über ihre Arme und Beine in den Teich hinabrannte, jagte ihr frostige Schauer über den Leib. Doch unbeirrt tastete sich Nadaya von Vorsprung zu Vorsprung, und die Anstrengung des Anstiegs hatte ihre Muskeln bald aufgewärmt. Nachdem sich ihre Kleidung erst einmal vollgesaugt hatte, machte ihr auch die Nässe nichts mehr aus. Im Gegenteil, Nadaya genoss es, sich in dem beständigen Sprühregen, der auf sie herabprasselte, immer weiter hinaufzuziehen. Die zunehmende Höhe und das kalte Wasser überall auf ihrer Haut erregten sie. Hart stemmten sich ihre Brustwarzen gegen das weiche Leder ihres Hemdes.

Der Felsvorsprung kam in Reichweite. Mit einem letzten Satz zog sich die Jägerin über die Kante aus dem Wasserfall heraus und rollte sich auf den Rücken, um durchzuatmen.

Mit dem Bogen im Genick war das jedoch nicht sehr angenehm. Also setzte sie sich auf. Die Jagd sollte beginnen. Sie zog einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn an und spähte auf die Lichtung hinab. Dann übernahm Nadayas einzigartige Begabung die Kontrolle über ihren Körper.

Obwohl sie immer noch auf dem Felsvorsprung saß, war es für die Welt um sie herum, als würde die Jägerin aufhören zu existieren. Zurück blieb nur die Skulptur einer jungen Frau, gekleidet in ein nassschwarzes Ledergewand, besetzt von Hunderten grüner, brauner, grauer Fetzen. Nein, nicht bekleidet. Vielmehr bewachsen. Eine Statue, überwuchert von Efeu, gekrönt von einem Geflecht zarter schwarzer Wurzeln, in denen sich der Sprühnebel des Wasserfalles sammelte und funkelnd die feinen Konturen der Wangen und des Halses hinablief, die Brust hinunter, in der kein Herz mehr zu schlagen, die kein Atem mehr zu heben und zu senken schien.

Nadaya wartete. Und die Welt um sie herum vergaß, dass sie lebendig war.

 

Sie hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange sie gewartet hatte. Es mochten nur wenige Augenblicke verstrichen sein. Aber der Felsvorsprung lag mittlerweile im Schatten. Die Sonne hatte ihren Zenit längst überschritten, als das Einhorn auf die Lichtung hinaustrat.

Zögernd zunächst näherte es sich dem südlichen Ufer. Einhörner waren noch weit misstrauischer als Klipprehe. Aber alle Sinne signalisierten ihm völlige Sicherheit. Es war kein größeres Lebewesen in der Nähe. Arglos schritt es an den Teich und senkte seinen Kopf zum Trinken hinab. Hier fiel noch etwas Sonne über den Rand der Schlucht. Das Fell des Einhorns schimmerte matt in Schwarz und Grün, sein Horn schillerte wie ein Insektenpanzer, als es durch die Sonnenstrahlen ins Wasser eintauchte.

Gerade wollte Nadaya ihren Pfeil auf den Weg schicken, als ein zweites Einhorn aus dem Unterholz trat. Ein drittes. Dann ein viertes. Und noch zwei weitere drängten sich zwischen die anderen zum Trinken an den Teich. Das war nicht gut.

Ein Einhorn war eine hervorragende, schmackhafte Beute. Fell und Horn ließen sich zu sehr guten Preisen in die Oberstadt verkaufen. Aber sie konnte nur ein einziges erlegen, bevor die Herde im Wald verschwand. Ihr Vater konnte mit einem einzelnen Einhorn ebenfalls fertig werden, schließlich brachte es nur halb so viel Gewicht auf die Waage wie Nadaya, und seine Schultern reichten Bannhart nicht mal an die Hüften. Aber falls zwei oder drei gleichzeitig in seine Richtung flohen, hatte er kaum eine Chance.

Denn im Gegensatz zu Klipprehen hatten Einhörner die unangenehme Angewohnheit, niemals vor einem Angreifer in unmittelbarer Nähe zu fliehen. Wenn man ihnen zu nahe kam, setzten sie ihr Horn ein. Und das wussten sie noch zielsicherer zu führen als die reichen Fechter aus der Oberstadt ihre Degen. Zwei oder drei Hörnern gleichzeitig auszuweichen, war so gut wie unmöglich.

Vorsichtig entspannte Nadaya ihren Bogen. Zu viele Jäger hatten bereits ihr Leben im Kampf gegen Einhörner verloren. Ihr Vater sollte nicht dazugehören.

Erst später wurde ihr bewusst, dass an diesem Tag die Einhörner sogar einem Jäger das Leben gerettet hatten. Wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben. Und auch nur aus Versehen. Denn in dem Moment, da Nadaya die Einhörner nicht mehr als mögliche Beute betrachtete und ihre Aufmerksamkeit von ihnen löste, merkte sie, dass sie selbst gerade im Begriff war, erbeutet zu werden.

Den Einhörnern unter ihr war Nadaya verborgen geblieben, aber nicht dem Jäger über ihr, dessen Tarnungstalent dem ihren fast ebenbürtig war. Sie sah seine Annäherung nur aus den Augenwinkeln, aber instinktiv ließ sie in einer einzigen fließenden Bewegung Bogen und Pfeil fallen, riss ihr Jagdmesser aus dem Gürtel und richtete sich seitwärts drehend auf.

Sekundenbruchteile genügten ihr, um zu erkennen, dass die dunkelgrau gepanzerte Kreatur, die ihre Muskeln zum Sprung spannte, ein Vielfaches von ihr selbst wog. Der Schieferdrache würde sie schlichtweg zerquetschen.

Also tat Nadaya das Einzige, was ihren unmittelbaren Tod abwenden konnte: Sie drückte sich noch in der Bewegung ihres Aufrichtens mit aller Kraft von dem Felsvorsprung ab. Rückwärts schoss sie in den leeren Raum hinaus und konnte gerade noch beobachten, wie die Höhlenkreatur auf ihrem Aussichtsplatz aufschlug. Dann stürzte sie ihren Waffen hinterher in die Tiefe.

Wild mit Armen und Beinen rudernd gelang es ihr im letzten Moment, sich aus der Rückenlage auf die Seite zu drehen, bevor ihre Schulter die Wasseroberfläche durchschlug.

Nadayas Aufprall auf dem Grund des knapp mannstiefen Teiches wurde durch das Wasser stark gebremst. Doch der Boden war nur von einer sehr dünnen Schlammschicht bedeckt, unter der die harten Ausläufer der Felswand lauerten und mit eiserner Faust die Luft aus Nadayas Lungen trieben. Der doppelte Schlag raubte der Jägerin beinahe das Bewusstsein. Sie war in ihren Albtraum zurückgestürzt.

Überall Wasser. Die ganze Schlucht unter Wasser. Die ganze Stadt versunken. Auch ihr Vater. Und Nadaya folgte ihm in die tote Tiefe.

Dann merkte sie, dass etwas ihr Sinken aufhielt. Sie fühlte Boden unter sich. Ihre Hände tasteten Sand und Stein. Sie stieß sich ab. Wasser drang in ihre Lungen. Und dann Luft.

Es lag kein Hunderte von Körperlängen messender Aufstieg vor ihr. Sie hatte bereits die Wasseroberfläche durchbrochen. Feine Strahlen von Sonnenlicht empfingen sie, kein Regenschauer.

Sie erinnerte sich wieder. Und wirbelte zur Felswand herum.

Hinter ihr sprang und schlitterte der Schieferdrache die Kaskadenwand hinab und stürzte schließlich mit beinahe ungebremster Wucht in den Teich. Es schien, als würde die Echse unter Wasser einfach weiter über die Felsen rennen, so schnell kam sie auf Nadaya zugeschossen.

Die Jägerin war solch einer Bestie aus den Höhlen in der Schluchtwand noch nie begegnet. Aber sie wusste, dass ihr Leben jetzt zu Ende war. Mit ihrem Sprung hatte sie sich nur wenige Sekunden erkauft. Wenn sie das Ufer erreichte, konnte sie vielleicht noch einmal so viele Augenblicke hinzufügen. Aber weder im Wasser noch an Land konnte sie dem Drachen entfliehen, und sie hatte keine Waffe, die gegen den Schuppenpanzer der Echse wirksam wäre. Nur eine Streitaxt, geführt mit der Kraft eines Schmiedes, vermochte diesen Panzer zu durchschlagen. Oder eine Lanze, getrieben von der Wucht eines Schlachtrosses.

Oder ein Einhorn.

Die Herde am Ufer war völlig verwirrt und viel zögerlicher, sich für die Flucht zu entscheiden, als es ein Einzelgänger gewesen wäre. Aber da die Einhörner noch nicht unmittelbar angegriffen worden waren, verschwanden sie jetzt doch nacheinander im Unterholz.

Nadaya schrie aus voller Kehle auf und pflügte wie wild durch den Teich auf die fliehenden Einhörner zu. Vielleicht würde sie ihr Leben doch noch retten können – indem sie Selbstmord beging!

Für die dem Wasser am nächsten stehenden Einhörner bedeutete Nadayas tobendes Heranstürmen jetzt zweifelsfrei einen Angriff. Wiehernd bäumten sie sich auf und senkten noch in der Drehbewegung ihre Köpfe für den Gegenschlag. Sie mochten nicht sehr groß sein, aber Einhörner verfügten über eine Stärke und Geschwindigkeit, angesichts derer selbst ausgewachsene Schlachtrösser nur vor Neid erblassen konnten. Schnaubend schlugen sie ihre Hufe in den Waldboden und warfen sich Nadaya entgegen.

Hinter der Jägerin bäumte sich die Wasseroberfläche auf, als der Schieferdrache den flachen Uferbereich erreichte und zum finalen Sprung ansetzte.

Im letzten Moment stieß die Jägerin sich seitwärts ab und tauchte in Richtung des Baches, der den Teich verließ. Eines der Hörner streifte ihren Arm und riss ihn am Ellenbogen auf, bevor das nachtgrün schimmernde Elfenbein mit magischer Wucht den Schieferpanzer durchschlug und bis zur Hälfte in der Schulter des Drachen versank, während das nächste Horn schon in seine Flanke drang.

Blind – und taub ihrer Wunde gegenüber – tastete sich Nadaya den aufgewühlten Boden des Teiches entlang und tauchte so weit sie konnte, bis ihr Körper sich verkrampfte vor Atemnot. So dicht wie möglich an das Ufer der Einhörner gepresst, schob sie ihren Kopf aus dem Wasser und kämpfte gegen den übermächtigen Hustenreiz und den sengenden Schmerz in ihrem Arm an. Die Einhörner durften sie nicht bemerken.

Die beiden Drachentöter hatten sich von dem zuckenden Kadaver der Echse zurückgezogen. Immer noch beherrscht von ihrem Kampfinstinkt, tänzelten sie wutschnaubend am Ufer des sich rot verfärbenden Teiches.

Nadaya krallte sich mit rasendem Herzen in die Böschung. Das Wasser, in dem sie lag, verwandelte sich in Blut. Aber es war nicht ihres. Zumindest das meiste nicht. Und als die beiden Einhörner schließlich die Lichtung verließen und sich ihrer Herde anschlossen, konnte sie endlich auch das letzte Wasser aus ihren Lungen husten und wieder frei atmen.

Bannhart stürzte mit gezücktem Jagdmesser aus dem Wald und sah seine Tochter schlammverschmiert bis zu den Knien in einem Teich aus Blut stehen, vor sich einen reglosen Schieferdrachen. Es dauerte eine Weile, bis er die Situation erfasst hatte.

„Mädchen, wie soll ich das nur deiner Mutter erklären?“

Nadaya sah an sich herab, und die ganze Anspannung des Kampfes entlud sich in einem wilden Lachen.

„Ich sag dir was: Du machst dich am Wasserfall frisch, und ich hol das Boot.“

„In Ordnung, Papa.“

Tränen schossen Bannhart in die Augen, während er in den Wald zurückkehrte. Die Jagd war immer ein blutiges Geschäft. Und eines, bei dem klar war, dass man dabei Leib und Leben verlieren konnte. Aber normalerweise dachte man nicht daran. Und wenn, dann war sich Bannhart bisher sicher gewesen, dass er es sein würde, der eines Tages von einer Jagd nicht zurückkäme. Nie hatte er zu denken gewagt, dass er Nadaya einmal nicht mehr nach Haus bringen würde. Er wusste, dass es ein Wunder war, dass seine Tochter noch lebte. Er war ein gesegneter Mann.

* * *

Kalt, prickelnd und vor allen Dingen sauber rann das Wasser über Nadayas Körper. Nackt saß sie an eine der Steinstufen in der Kaskade gelehnt und wand sich in der frischen Sturzflut, während sie die letzten blutigen Schlammreste aus ihrem Jagdgewand spülte. Immer wieder glitt ihr Blick zu dem toten Schieferdrachen im Teich. Eine schwarz glänzende Insel im inzwischen wieder klaren Wasser, von der nur noch ein dünner roter Faden dem Bachlauf in den Wald hinein folgte.

Eine Beute, die weit mehr als einen Sommer Arbeit wert war. Bis auf die beiden präzisen Einstiche der Einhörner war die Echse aus der Felswand unversehrt. Normalerweise sahen erlegte Schieferdrachen aus, als hätte man sie bei lebendigem Leib durch einen Fleischwolf gedreht. Meistens war das auch der einzige Weg, sie zu töten. Wenn man eine oder zwei unbeschädigte Panzerplatten behielt, konnte man sich glücklich schätzen. Richtig durchgeschlagen waren natürlich die wenigsten, schließlich konnten sie vielen Schwert- und Axthieben mühelos trotzen. Aber übersät mit Furchen und Dellen waren sie eben nur noch kostbar, nicht mehr unbezahlbar.

Eine Rüstung, die mit makellosen Panzerplatten besetzt war, war nicht nur leicht, beweglich und so gut wie undurchdringbar für Pfeile. Sie war ein unvergleichliches Statussymbol. Und sie trug dadurch noch mehr zur Gesundheit ihres Trägers bei als jede andere Rüstung – denn mit ihr hielt er sich, so gut es ging, aus allen Kämpfen heraus, um nicht doch noch eine Schramme zu riskieren.

Nadaya schlüpfte zurück in ihr ausgespültes Ledergewand und zog ihren Gürtel fest. Kopfüber tauchte sie in den Teich. Mit wenigen Schwimmzügen erreichte sie den Drachenkadaver. Das Wasser war hier kaum hüfttief. Sie richtete sich auf und umrundete das Tier. Es war mit Sicherheit schwerer als Ravynn.

„Wie willst du dieses Vieh an Bord heben? Sollten wir nicht lieber Hilfe holen?“

Nadayas Vater hielt das Boot noch unter den Bäumen im Bach an und sprang ans Ufer.

„Wir würden nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit zurückkehren können. Und du weißt, dass wir morgen nur noch ein paar Knochen finden würden, wenn überhaupt. Nein. Wir werden ihn auf den Kahn schaffen und zu Norholds Farm bringen.“

„Aber wie willst du das anstellen?“

Bannhart grinste sie an:

„Warts nur ab! Du bist schließlich nicht mein einziges Kind mit Talenten. Ich werd dir jetzt mal zeigen, was mir dein Bruder letzte Woche im Hafen vorgeführt hat. Er lädt so die Waren aus Aaryon schneller ab als jeder andere Händler.“

Damit hob er ein langes Seil aus dem Boot und warf seiner Tochter ein Ende zu.

„Zieh es zur Hälfte zu dir und wirf mir das Ende wieder zurück. Dann leg ihm eine Schlaufe um den Rumpf.“

Nadaya hatte schon Schwierigkeiten, die beiden Vorderbeine und den Kopf der Bestie anzuheben, um das Seil hinter seine Schulter zu bugsieren. Und das, obwohl das Untier halb im Wasser lag. Auch zu zweit würden sie das Tier kaum hoch genug ziehen können, um es aus dem Teich über die Bootskante zu heben. Aber ihr Vater schien sich seiner Sache sicher.

Das erste Seilende warf er über einen Ast, der auf halbem Weg zwischen Nadaya und dem Kahn die Bachmündung überspannte. Dann knotete er es um eine Wurzel so dick wie sein Oberschenkel, die das Wasser am Ufer freigespült hatte. Das zweite führte er über einen Ast oberhalb des anderen Bootsendes und rief seine Tochter zu sich.

Skeptisch betrachtete sie das Seil, das er hielt, als könne er damit Blei in Gold verwandeln, wenn sie es nur berührte.

„Papa, auch zu zweit können wir diesen Koloss nicht bewegen.“

„Da hast du vollkommen recht, mein Kind.“

Nadaya blickte ihn verblüfft an: „Und was machen wir dann hier?“

Bannhart hob den Zeigefinger wie ein Schulmeister, gerade so, wie Nahran es immer tat, wenn er seine Schwester oder ihren jüngeren Bruder belehren wollte. Nadaya wurde noch skeptischer. Aber ihr Vater fuhr strahlend fort:

„Den ganzen Drachen können wir natürlich nicht bewegen. Aber den halben!“

Nadaya sah ihn fassungslos an.

„Du willst jetzt anfangen, ihn hier zu zerlegen? Dann werden wir bis Sonnenuntergang sicher noch ein paar weitaus interessantere Tiere beobachten können als Einhörner und Schieferdrachen. Und sogar von innen!“

„Red keinen Unsinn! Ich will ihn doch nicht zerlegen. Ich wollte nur sagen, dass wir, wenn wir jetzt gleich ziehen werden, nur den halben Drachen heben müssen, weil die andere Hälfte seines Gewichtes von unserer Freundin, der Wurzel, gehalten wird.“

Für einen Augenblick dachte Nadaya, ihren Zwillingsbruder vor sich zu haben. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Eltern mit der Zeit auch Züge ihrer Kinder annehmen konnten. „Du weißt, dass ich Nahran immer in den Hintern trete, wenn er so mit mir redet!“

Bannhart lachte.

„Tut mir leid. Vertrau mir einfach und zieh!“

Gemeinsam hängten sie sich an das Seil und zogen.

Da der Schieferdrache halb im Wasser schwamm, schafften sie es tatsächlich, ihn bis dicht vor den Bootsrand zu ziehen. Doch jetzt mussten sie ihn noch über die Kante heben. Bannhart zog den Kahn etwas weiter zurück. Sein entferntes Ende befand sich jetzt genau zwischen den beiden Ästen, über die das Seil lief.

„Also, wenn wir unser Seilende jetzt auch an eine Wurzel knoten würden, würden beide Wurzeln zusammen sein Gewicht halten. Wenn wir an unserem Ende ziehen, hält die Wurzel am anderen Ende immer noch ihren Teil des Drachen. Also müssen wir nicht den ganzen Drachen heben, sondern nur den halben! – Schau mich nicht so an! Ich gebe ja zu, dass ich es auch nicht ganz verstehe. Aber im Hafen funktioniert es. Dann muss es hier doch auch klappen. Nahran hat gesagt, dass keinerlei Magie im Spiel ist.“

Nadaya hätte auch nicht zuerst auf Magie, sondern auf eine simple Scharlatanerie ihres Bruders getippt, mit der er seine Händlerkollegen übers Ohr haute. Aber ihre Neugier war geweckt.

„Lass es uns versuchen!“

Vater und Tochter begannen, mit aller Kraft an dem Seil zu ziehen. Das Leder ihrer Handschuhe knackte vor Anstrengung, und die Wunde an Nadayas Arm brannte wieder auf, aber sie schafften es tatsächlich, das Seil Stück für Stück zu sich herunterzuziehen.

Nadaya hatte das seltsame Gefühl, dass der Drache sich zwischen den beiden Ästen zwar wirklich emporhob, aber nur halb so schnell, wie sie zogen. Sie hatten gut zwei Ellen wettgemacht an ihrem Seilende, aber der Kopf des Biestes hatte sich gerade mal eine bewegt. Sie kam sich vor wie in einem Traum, in dem man rennen musste, um mit einer Schildkröte Schritt zu halten. Vielleicht war doch Magie im Spiel?

Aber selbst wenn – es war nicht genug. Bannhart und Nadaya griffen erneut nach oben, um sich mit ihrem ganzen Gewicht an das Seil zu hängen, doch als sie ihre Beine anzogen, kam es ihnen nur noch einen Fingerbreit entgegen. Ihre Füße baumelten in der Luft, der Körper der Echse jedoch hob sich nicht weiter aus dem Wasser.

Es reichte bei Weitem noch nicht aus, um das Boot auch nur unter den Vorderleib des Tieres zu schieben. Erschöpft gaben sie das Seil wieder frei, und der Kopf des Drachen plumpste ins Wasser zurück.

Bannhart rang um Luft und Fassung. Sollten sie wirklich ihr Leben riskiert haben für eine Beute, die sie jetzt zurücklassen mussten?

„Wir könnten hier bleiben und hoffen, dass sie morgen einen Suchtrupp schicken?“

Nadaya sah ihn müde an.

„Du hast es doch selbst gesagt: Morgen würde man von dem Drachen nur noch Knochen finden – und von uns höchstens eine Gürtelschnalle.“

Eine Weile saßen sie nur so da, um wieder Luft zu bekommen. Dann raffte sich Bannhart auf.

„Es hilft nichts. Lass uns ein paar schöne Panzerschuppen abschneiden, dann fahren wir zurück. Es dämmert schon.“

Nadaya hatte die ganze Zeit auf das Seil gestarrt. Und die Äste, über die es lief. Und die Wurzel, die es hielt.

„Papa, haben wir noch ein zweites Seil dabei?“

„Natürlich. Was willst du damit anfangen?“

Nadaya sprang auf. Sie hatte die Lösung. Sie wusste zwar noch nicht, warum es funktionieren würde, aber dass es funktionieren würde.

„Wenn wir nicht schwer genug sind, eine Hälfte des Drachen zu heben, dann vielleicht wenigstens die Hälfte einer Hälfte?“

Bannhart begriff nicht sofort.

Nadayas Grinsen reichte vom einen Ohr zum anderen:

„Und die zweite Hälfte der Hälfte lassen wir von einer weiteren Wurzelfreundin halten!“

* * *

Oben an der Ostwand verglühten die letzten Spuren der Abendsonne. Die Schatten im Talgrund versanken in der Dunkelheit der Nacht. Fledermäuse verließen die Höhlenschächte zu Tausenden und füllten die Luft mit ihren schrillen Schreien. Der silberne Schweif eines Monddrachen durchbrach den Schwarm, und der fliegende Jäger kehrte mit seiner Beute im Maul in einer großen Schleife zurück zu seinem Nest. Splitterndes Holz und das raschelnde Abtauchen einer Baumkrone verrieten, dass auch ein Granitgreifer sein Nachtmahl begonnen hatte.

Nadaya war schweißgebadet, als ihr Boot endlich den Waldrand erreichte und sie die Sterne über sich funkeln sah. Die beiden Jäger wussten, was ihnen in der Nacht alles im Wald begegnen konnte, und hatten ihren Kahn so schnell vorangetrieben, wie es ihre Kräfte noch erlaubten.

Sie standen beide am vordersten Ende des Bootes, um das Gewicht des toten Schieferdrachen, der auf der anderen Seite halb über den Rand hing, wenigstens etwas auszubalancieren. Da die Kreatur aber trotzdem noch an vielen Stellen des Baches über den Grund schleifte, konnten sie das Boot die meiste Zeit nur vorwärtsbewegen, wenn sie sich beide gleichzeitig mit ihren Stangen abdrückten. So war ihre Rückfahrt fast in demselben Schneckentempo verlaufen, in dem sie den Drachen mit dem doppelten Seilzug in die Höhe gehievt hatten.

Erleichtert sahen sie einige von Norholds Knechten mit Fackeln auf den Anlegesteg zurennen. Man hatte sich schon Sorgen gemacht. Beim Anblick der Beute war der Tumult vollkommen.

Schnell hatte man ein Dutzend weiterer Männer zu Hilfe gerufen, um den Schieferdrachen auf einen Karren zu heben, mit dem er am nächsten Tag in die Stadt gebracht werden sollte. Das Wort „Drachentöterin“ schlich im Fackelschein durch die Reihen der Knechte, und Nadaya war zu müde, um zu widersprechen.

Ein Bote wurde sogleich in die Stadt geschickt, um Bannharts Frau zu berichten, dass ihr Mann und ihre Tochter wohlbehalten von einer überaus erfolgreichen Jagd zurückgekehrt waren. Die beiden Jäger selbst hatten nicht mehr die Kraft für den Ritt, und zumindest Bannhart war auch nicht ganz wohl bei dem Gedanken, ihre wertvolle Beute aus den Augen zu lassen.

Nachdem Nadayas aufgerissener Arm von einem Heiler versorgt worden war, legten sie sich also in der gleichen Scheune nieder, in der auch der Karren mit dem Drachen auf den kommenden Morgen wartete.

Norhold ließ die Wachen auf den Türmen am Wald in dieser Nacht verdoppeln. Die Blutspur des Drachen hatte seine Weiden für ungebetene Gäste noch attraktiver gemacht. Er war sich sicher, dass die Jäger seine Vorsichtsmaßnahmen und Fürsorge gebührend entlohnen würden.

Der Tod eines Drachen war ein gutes Omen. Es kündete von erfolgreichen Geschäften. Dieser Sommer versprach für Norhold sehr einträglich zu werden.

* * *

Nadaya erreichte den Felsvorsprung. Hier hatte sie den Einhörnern aufgelauert und wäre beinahe dem Schieferdrachen zum Opfer gefallen. Aber sie hielt nicht an, sondern kletterte die Kaskadenstufen weiter hinauf. Das kalte Wasser, das ihr unentwegt entgegenstürzte, prickelte auf ihrer Haut und kühlte ihre angespannten Muskeln. Immer höher zog sie sich hinauf.

Die sanft im Wind wogenden Baumkronen blieben weit unter ihr zurück. Sie genoss es zu spüren, wie das Wasser sich zwischen ihren Brüsten hindurchschlängelte, ihren Bauch hinab, ihre Beine hinunter. Immer höher kletterte sie. Sie wollte bis zur Quelle, der Stelle, wo der Sturzbach der Schluchtwand entsprang.

Der Aufstieg wurde anstrengender. Ihr Atem ging stoßweise. Das Wasser in ihren Haaren und ihrem Gewand wog immer schwerer. Nein. Es wurde immer mehr. Es regnete. Nicht nur der Wasserfall floss über Nadaya herab, sondern ein sintflutartiger Regen. Der Himmel war finster von schiefergrauen Unwetterwolken; Felsen und Firmament eine einzige Wasser speiende Wand vor ihr, über ihr. Nadayas Fuß glitt ab. Ihre Hand verlor den Halt. Sie rutschte. Sie stürzte.

Aber sie zerschellte nicht an der Felswand. Mit ohrenbetäubender Wucht schlug sie im überquellenden Teich auf. Einen Moment war sie orientierungslos, dann stieß sie sich mit aller Kraft vom Grund ab und durchbrach im selben Moment wieder die Wasseroberfläche.

Es war nicht mehr der Teich im Wald, in dem sie schwamm. Es war ein See, ein See von unermesslichen Ausmaßen, seine Oberfläche brodelnd aufgewühlt vom rastlosen Regen. Nadaya fühlte eine Stufe unter ihrem Fuß.

Sie stieg aus dem See und stand auf der Mauer des Dammes, der seit Urzeiten die Stadt beschützte. Auf der einen Seite die unendlichen Wassermassen, auf der anderen Seite tief unter sich das Tal, der winzige Fluss, der sich nach Norden schlängelte, auf die Stadt zu. Über allem der Regen.

Das Wasser kroch Elle um Elle die Staumauer hinauf. Die ersten Wellen sprangen Nadayas Stiefel empor. Aber wohin sollte sie fliehen? Sie stand mitten in der Schlucht, die Wände auf beiden Seiten unerreichbar und auch über dem Damm noch so unfassbar hoch, verwachsen mit den Wolken.

Sie musste den Damm hinab. Er war wie eine steile Pyramide aufgeschichtet, Steinstufe um Steinstufe. Nadaya rannte los. Aber der Regen holte sie ein. Das Wasser, das um ihre Füße herum dem Tal zuströmte, wurde zum Sog. Der Boden bebte.

Nadaya sah eine Welle aus Steinen und Wasser über die Krone des Dammes branden und auf sich zurasen. Ihre Lippen öffneten sich zum Schrei, aber heraus kam nur ein heiseres, atemloses Keuchen.

„Nadaya!“

Als wäre sie fast erstickt, rang sie wimmernd um Luft. Ihre Fingernägel sanken in Bannharts Arm bei dem Versuch, sich an ihm hochzuziehen. Wasser lief ihr über das Gesicht, drang in ihre Kehle ein. Sie verschluckte sich, krümmte sich, warf sich hustend zur Seite.

„Nadaya!“

Ihre Hände ruhten auf nassem Stroh und Holz. Sie kniete auf dem Zwischenboden einer Scheune. Morgendämmerung fiel durch das baufällige Dach über ihr – und Regen.

„Nadaya!“

Jetzt erst bemerkte sie ihren Vater neben sich knien, das Gesicht bleich und faltig vor Sorge.

„Es geht schon, Papa.“

„Mein Gott, was war das?“

Mit Tränen in den Augen und dem Regen wie einem Mantel um sich sah sie ihn an. „Das war mein Traum.“

* * *

„So schlimm wie in dieser Nacht war es noch nie.“

„Ich hätte dir nicht von dem Damm und den vielen Toten erzählen sollen.“

Nadaya schüttelte sanft ihren Kopf und spülte die Reste des kargen Frühstücks mit einem kräftigen Schluck aus dem Wasserschlauch hinunter.

„Du musst dir keinen Vorwurf machen, Papa.“

Sie zog sich am Rand des Karrens auf die Beine und warf ihren geleerten Proviantsack auf die Ladefläche neben den schwarz glänzenden Berg des Schieferdrachen.

Bannhart blickte sie missmutig von der gegenüberliegenden Wand aus an, dem zweiten halbwegs trockenen Fleck. Nachdem der überall in die Scheune eindringende Regen ein Weiterschlafen unmöglich gemacht hatte, konnten die beiden Jäger nichts anderes tun, als ihre letzten Vorräte zu frühstücken und auf das erste Tageslicht zu warten.

„Ich glaube, mein Traum hat etwas zu bedeuten.“

„Das habe ich dir doch schon erklärt.“

Nadaya schüttelte erneut den Kopf: „Nein. Er hat nichts mit der Vergangenheit zu tun, sondern mit der Zukunft.“

Bannhart verstand nicht, was sie sagen wollte. „Auf jeden Fall sollten wir einen Heiler um Rat fragen, wenn wir wieder in der Stadt sind. Dank deiner Beute werden wir ihn sogar bezahlen können.“ Ein Lächeln schlich sich durch seinen Bart und erhellte auch Nadayas Gesicht. „Lass uns aufbrechen!“

Aber seine Tochter rührte sich nicht.

„Was ist?“

Vollkommen ruhig sah sie ihm in die Augen und sagte: „Ich werde nicht mitkommen.“

Bannhart stand wie vom Blitz getroffen. „Was?“

„Ich werde nicht zurück in die Stadt reiten, sondern nach Süden. Zum Damm.“

„Du willst nur wegen eines dummen Albtraums vier Wochen in der Gegend herumreiten? Lass uns die Sache den Ältesten vorbringen. Sie können einen Experten zum Damm schicken, der sich die Sache ansieht. Was würdest du dort schon anfangen wollen?“

„Ich weiß es noch nicht. Aber ich weiß, dass ich dorthin muss.“ Sie stockte. „Es wartet ...“ Sie brach den Satz ab.

Bannhart schwieg eine Weile. Dann nickte er. „Also gut. Reiten wir zum Damm.“

„Nein.“ Nadayas Stimme war immer noch ruhig, hatte aber einen harten Unterton gewonnen. „Ich muss das alleine machen. Ich bin fast erwachsen ... und du musst auf Mutter und die Jungs aufpassen.“

„Das kommt gar nicht infrage!“

„Papa. Diese Bitte musst du mir gewähren. Lass es mein Hochzeitsgeschenk sein.“

„Dein Hochzeitsgeschenk? Du hast dir noch nicht mal einen Mann gewählt! Wann willst du das tun? Am Abend vorher? Außerdem ist es viel zu gefährlich.“

„Nahran reitet oft genug allein nach Aaryon. Und du vergisst, dass ich jetzt eine Drachentöterin bin. Jeder Mann wird mich nehmen, wenn ich ihn wähle.“

Bannharts Miene hellte sich wieder etwas auf. „Oder keiner! Willst du dich aus dem Staub machen, bevor es sich herumspricht?“

Nadaya trat einen Schritt auf ihren Vater zu und fasste ihn an den Schultern. „Vertrau mir! Ich werde zurückkommen.“

Bannhart küsste sie auf die Stirn. „Na gut. Aber du wirst Ravynn reiten. Dann bist du schneller wieder bei uns. Und lass dich von Norhold mit allem ausrüsten, was du für die Reise brauchst. Er soll auch etwas leisten für die Panzerschuppe, die er sich erhofft.“

„Danke, Papa.“

Nadaya trat an das Scheunentor und drückte es auf. Der Morgenhimmel war dunkelgrau wie die Felswände der Schlucht. Haare und Kleidung der Jägerin waren immer noch durchnässt. Aber es hatte aufgehört zu regnen. Für den Moment zumindest.


© 2012 Gestaltung & Programmierung: Marc Schomerus